Auf Spurensuche nach der „Stunde Null“

Die Barackenlager der Mainzer Straße

Torbogen zur alten Opel Fabrikhalle

Hinter den beiden Zahlen 1509 und 4602 stehen zwei menschliche Schicksale. Sie sind durch einen Ort und einen Zeitabschnitt miteinander verwoben: das Werksgelände der Adam Opel AG im Jahr 1942. Ihre Geschichte beginnt an weit entfernten Ecken der Welt. Jean kommt 1905 in Saigon, Französisch-Indochina zur Welt. Praskowija wird 6.500 km weiter nordöstlich im harten russischen Winter 1922 auf der Halbinsel Kamtschatka geboren. Sie arbeitet auf dem Land, er als Kassierer. Er ist bei Kriegsausbruch 33 Jahre alt, verheiratet und hat ein Kind und wird wie alle wehrdiensttauglichen Männer seines Alters bei Kriegsausbruch zur französischen Armee eingezogen. Sie ist zu diesem Zeitpunkt 17 Jahre alt. Kurz darauf befindet Jean sich in Kriegsgefangenschaft. 1942 ist Praskowija als „russische Ostarbeiterin” auf dem Weg nach Westen ins „Dritte Reich.” Ein Schicksal, das sie mit tausenden jungen Frauen aus Osteuropa teilt. Die meisten, nicht mehr Mensch, sondern in den Augen der Nationalsozialisten nur mehr eine Nummer, werden zur Arbeit gezwungen. Haben Jean und Praskowija sich auf dem riesigen Werksgelände jemals kennengelernt? Wir wissen es nicht.

Scan: "Vorläufiger Ausweis gilt als vorläufiger Ersatz für den verlorenen Personal-Bildausweis", Gültigkeit 1945

Beide treffen 1942 in Rüsselsheim ein, wo sie bis zum Kriegsende ausharren müssen. Dort, in den Lagern links und rechts der Mainzer Straße, leben gleichzeitig bis zu 3.500 Personen. Sie alle werden für Opel, den Krieg und das „Reich” ausgebeutet. Der Barackenkomplex Mainzer Straße unterteilt sich in mehrere abgeschlossene Lagereinheiten. Getrennt nach Geschlecht, Familienstand und „Rasse” müssen sie sich in eine Lagerhierarchie einordnen, in der ihre Herkunft maßgeblich darüber entscheidet, wie schlecht sie behandelt werden. Jean geht es als französischem Kriegsgefangenen vergleichsweise gut; Praskowija als „russische Ostarbeiterin” steht in der Lagerhierarchie ganz unten. Mangelnde Ernährung, Arbeit bis zur Erschöpfung, Gewalt und Misshandlung und Angst vor Luftangriffen, denen sie mehr oder weniger schutzlos ausgeliefert waren, prägen ihren Alltag.

schwarz-weiß Fotografie von ArbeiterInnen an einem Fließband

1111 Tage verbringt Jean hier, Praskowija 877. Bei Kriegsende ist sie 23, er 39 Jahre alt. Sie haben die Luftangriffe überlebt, bei denen viele der Zwangsarbeiter*innen ums Leben gekommen waren. Tausende Kilometer entfernt von der Heimat, erschöpft und gezeichnet von ihren Erfahrungen, wollen sie nur noch eins: Zurück nach Hause. Für Jean als französischem Soldaten in deutscher Kriegsgefangenschaft ist bei Kriegsende alles vorbei: er ist frei und ein Held. Praskowija dagegen ist lebenslang gebrandmarkt. In der Sowjetunion hält man sie für eine Verräterin, eine Kollaborateurin. Für sie gibt es keinen Neuanfang.

zerstörtes Zwangslager, Luftaufnahme

In Rüsselsheim aber will man wieder aufbauen und nach vorne blicken: Ohne Opel geht es nicht. Damit die Bänder wieder anlaufen können, müssen die Trümmer beseitigt, die Kriegsschäden repariert und die Fabrik wiederaufgebaut werden. Es geht schnell. Auch wenn 43 Prozent des Werkes zerstört sind und ein Teil der Produktionseinrichtungen als Reparationsleistung in die Sowjetunion abtransportiert werden, wird die Produktion 1946 wiederaufgenommen. Ein Jahr nach Kriegsende. Zunächst produziert man nur Kühlschränke für die Amerikaner, aber bald rollen auch wieder PKWs von den Bändern. Das Wirtschaftswunder nimmt seinen Lauf. Der Adam Opel AG geht es gut. Auf dem Gelände der ehemaligen Zwangsarbeiterlager entstehen neue Produktionshallen. An ihr Schicksal erinnert nun nichts mehr: die „Fremden” geraten in Vergessenheit. Dies ändert sich erst 50 Jahre später.

In den 1990er Jahren müssen sich mehrere große deutsche Firmen ihrer Verantwortung stellen. Zusammen mit der Bundesregierung gründen sie die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft”; die eingezahlten Gelder der Industrie werden verwendet, um Entschädigungen auszuzahlen. Auch die Opel AG zahlt ein. Gleichzeitig melden sich im Stadtarchiv Rüsselsheim ehemalige „Ostarbeiter*innen”; sie fragen nach Dokumenten und Unterlagen, die ihre Leidenszeit in Rüsselsheim belegen können.

2016 verlegt Künstler Gunter Demnig zusammen mit der Rüsselsheimer „Stolperstein” Initiative eine „Stolperschwelle” vor dem Hauptportal zur Erinnerung an die über 7.000 Zwangsarbeiter*innen der Adam Opel AG. Die Firma Opel unterstützt das Projekt.

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